Gezielte Prävention und Vernetzung sind die Zukunft des Betreuten Wohnens!

Einrichtungen des Betreuten Wohnens können die Pflegebedürftigkeit von Senioren hinauszögern oder sogar verhindern. Voraussetzung: Sie verknüpfen sich mit Präventions-, Telemedizin- und Reha-Angeboten. Ein Interview mit Altersforscher Prof. Dr. Hans-Werner Wahl (Universität Heidelberg) und Anja Sakwe Nakonji.

Frau Sakwe Nakonji, ist Betreutes Wohnen der Ausweg aus dem Pflegenotstand?

Sakwe Nakonji: Das wäre zu einfach. Betreutes Wohnen ist ja kein Ersatz für Pflegeheime, die wir nach wie vor brauchen werden. Es ist vielmehr ein Angebot, das diesem Stadium zeitlich vorgelagert ist. Aber klar ist auch: Mit dem richtigen baulichen Zuschnitt und dem richtigen Dienstleistungsangebot können Einrichtungen des Betreuten Wohnens zu einer deutlichen Entlastung beitragen. Denn wenn Seniorinnen und Senioren maximal präventiv betreut werden, bleiben sie länger selbstständig und werden später oder vielleicht gar nicht pflegebedürftig. Angesichts der knappen Ressource „Pflege“ und der steigenden Zahlen der Hochbetagten müssen wir dieses Potenzial nutzen.

Herr Prof. Dr. Wahl, wenn Sie als Altersforscher bei der Planung einer Immobilie für Seniorenwohnen mit am Tisch säßen, worauf käme es Ihnen an?

Wahl: Barrierefreiheit – oder besser Barrierearmut – ist heute schon selbstverständlich. Wesentlich interessanter sind Aspekte der baulichen Flexibilität, wie zum Beispiel mobile Wände, um schnell und einfach ein Pflegebett aufstellen zu können. Die Wohnungen sollten nicht zu klein sein, damit Übernachtungsgäste untergebracht werden können. Zudem sollten sie über einen Balkon mit freiem Blick verfügen. Neben dem Raumprogramm ist aber vor allem das Konzept entscheidend, also welche Services und sozialen Betreuungsdienste biete ich als Betreiber an. Gute Konzepte im Betreuten Wohnen gibt es schon. Und das Segment entwickelt sich sehr dynamisch. Aber Einrichtungen des Betreuten Wohnens können noch viel mehr leisten als bisher, wenn wir sie als Teil eines psychogeriatrischen Netzwerks begreifen.

Was meinen Sie damit genau?

Wahl: Welten von Bauträgern, Gerontologie, Medizin, Bildung, Rehabilitation und Kommune. Das heißt insbesondere, dass wir präventiv an den psychischen und medizinischen Bedürfnissen der Bewohner ansetzen, und zwar mit den technischen Möglichkeiten, die wir haben. Um es etwas plakativ zu sagen: Nicht Hausnotruf, wenn der Bewohner gefallen ist, sondern präventives Monitoring. Wir können heute beispielsweise weitgehend automatisiert Ganganalysen durchführen und damit früher und besser eine Sturzgefährdung erkennen als der Arzt oder die Angehörigen. Wir können automatisiert die psychische Konstitution der Bewohner beurteilen oder uns mit den Angehörigen austauschen. Gerade auch medizinische Leistungen haben großes Potenzial, zum Beispiel präventive Hausbesuche, telemedizinische Visiten und das Überleitungsmanagement bei Krankenhausaufenthalten. Hinzu kommen Assistenzsysteme zur Unterhaltung und zum Training. Dies alles ist Teil eines zukünftigen „Gesamtkunstwerks“ Betreutes Wohnen.

Ist das Zukunftsmusik oder heute schon in der Praxis darstellbar?

Sakwe Nakonji: Vieles ist schon jetzt machbar, beispielsweise die angesprochene Ganganalyse oder telemedizinische Angebote. Es gibt übrigens Pflegeheimbetreiber, in denen sich die Bewohner ein Tablet mieten und digitale Angebote unter Anleitung nutzen können. Das setzt natürlich voraus, dass die Mitarbeiter im Betreuten Wohnen entsprechend geschult sind. Und es wäre ein hochwertiger Service, der seinen Preis hat – aber das ist bei anderen hochwertigen Dienstleistungen in unserem Alltag auch so. Entscheidend ist: Durch sein teil-institutionelles Format lässt sich das im Betreuten Wohnen viel zielgenauer und auch kosteneffizienter leisten als im Privathaushalt, wo sehr unterschiedliche Voraussetzungen herrschen.

Was muss sich ändern, damit dies im großen Stil umgesetzt wird, wo sehen Sie den größten Bedarf für ein Umdenken?

Wahl: Ich sehe den größten Bedarf in der Erkenntnis, dass Wohnen nicht nur umbauter Raum ist. Die Wohnung zukünftiger alter Menschen ist ein sozialer, bildungsbezogener Gesundheitstrainingsraum, in dem Daten unterschiedlichster Art systematischer dokumentiert werden als jemals zuvor. Ich sehe das als eine hilfreiche und hoch präventionsunterstützende Variante von Big Data, nicht als Risiko. Datensicherheit ist dabei selbstverständlich. Wir leben ja bereits in einer Kultur des Sammelns von Alltagsdaten. Das muss jetzt auch für Ältere proaktiv gestaltet werden.

Dazu müsste die Digitalisierung in den Einrichtungen und bei den Bewohnern deutlich an Fahrt aufnehmen.

Sakwe Nakonji: Das stimmt, das ist heute aber allen klar. Die Corona-Pandemie hat nochmal vor Augen geführt, wie wichtig digitale Technologien für Seniorinnen und Senioren in Wohn- und Pflegeeinrichtungen sind. Wer heute plant, weiß: Betreutes Wohnen ohne WLAN ist nicht mehr marktfähig. Wir befinden uns in einem Übergangsprozess. Die Hochaltrigen von heute nutzen erst zu einem kleinen aber wachsenden Teil Smartphones oder Tablets. Bei den Hochaltrigen von morgen wird das zunehmend selbstverständlich.

Wahl: Zudem wird sich in Forschung und Entwicklung in den nächsten Jahren viel tun. Das gilt sowohl für das Leben im Betreuten Wohnen als auch für die Gestaltung digitaler Angebote. Hier kommt es vor allem darauf an, die Angebote userfreundlich und flexibel an die sich verändernde Situation der älteren Menschen anzupassen. Auch das ist im Betreuten Wohnen besonders gut und individuell möglich.

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